
Frauen und ADHS – eine persönliche Spurensuche
Ich darf wiederum eine Gastbloggerin hier begrüssen.
Ich freu mich sehr, hat für uns ADHS-Lerncoach Salome Merz ihre Geschichte und ganz viel Wissen zum Thema „Frauen und ADHS“ aufgeschrieben. Auf ihrem Blog Serelepe fndest du ganz viel Fachwissen zu ADHS.
Danke für dein Vertrauen, uns hier an so vielem Persönlichem teil haben zu lassen. Und ein grosses Merci, darf ich deine schönen Grafiken hier brauchen.
Ganz am Schluss stellt sich Salome noch selber vor.

«Hey, ich glaub ich hab auch ADHS». Es ist mir per Instagram-Chatnachricht rausgerutscht. Ich habe mich seit einigen Monaten mit einer Freundin unterhalten. Darüber, dass ihr Sohn vermutlich ADHS hat. Beide schickten wir uns immer mehr Videos zu, die das Thema erklärten. Und vermutlich bemerkten wir gleichzeitig – nein, nicht nur der Junge hat ADHS.
Die erste Reaktion meiner Freundin überraschte mich trotzdem: «Du?! Nein, sicher nicht!». Jetzt war ich irritiert. Haben wir uns nicht ständig Videos geschickt mit dem Gedanken «Hey, das passt zu dir»?
Da war so viel, was mein Leben plötzlich erklärte. Mein Leben als sehr intelligente Frau, die aber mit den einfachsten Dingen manchmal unglaublich viel Mühe hatte. Die mit 12 Jahren bereits Kant gelesen hatte, aber es mit 25 Jahren noch nicht geschafft hat, den Haushalt so zu organisieren, dass er nicht ständig im Chaos endet.
Nach Treffen mit Freunden habe ich mich stundenlang in Gedanken gewälzt. «Warum hast du da schon wieder unterbrochen? Hier hättest du das Thema sein lassen können, warum musstest du so fest diskutieren? Warum immer provozieren, lass es doch mal sein».
Weiterbildungen wurden immer mehr zur Qual. Dasitzen und Nichtstun. Vorne erzählt jemand etwas. Zu langsam. Zu bekannt. Zu wenig. Meistens endete es darin, dass ich wütend wurde – und dadurch natürlich auch unsympathisch für Kolleg:Innen.
Immer mehr Situationen meines Lebens wurden plötzlich anders. Wo ich früher mir ständig Selbstvorwürfe gemacht habe, kamen plötzlich Erklärungen. Langeweile, fehlende Bewegungen, Dopamin.
Bald traute ich mich, der Freundin mehr über mich zu erzählen. Die Maske, die ich nun schon 26 Jahre so gut beschützte, ein wenig fallen zu lassen. Und nicht wenig später sagte auch sie: «Ja, das habe ich voll falsch eingeschätzt. Ich find das gut, wenn du dich abklären lässt».
Inhalt
Meine Geschichte ist typisch
In meinem Psychologiestudium habe ich dann eine Arbeit geschrieben über Frauen mit ADHS. Da wurde mir bewusst – meine Geschichte ist typisch. Sie erzählt die Geschichte von sehr vielen Frauen, die als Kind nie gesehen werden und als Erwachsene plötzlich einen so grossen Leidensdruck haben, dass eine Diagnose (wenn überhaupt) noch kommt.

Mädchen mit ADHS
Mädchen mit ADHS fallen weniger auf.
Dies liegt zum einen daran, dass sich ihre Symptome ein wenig anders zeigen. Mädchen mit ADHS haben häufiger den unaufmerksamen Typ. Sie träumen, sind vergesslich, nachdenklich. Da sie, anders als die Jungen, schneller merken, dass ihr Verhalten unerwünscht ist, verstecken sie es. «Maskieren», nennen wir das in der Fachsprache. Statt chronisch zu spät kommen wir 30 Minuten zu früh. Statt Hausaufgaben vergessen werden sämtliche Anweisungen penibel genau gemacht – und noch dreimal nachgefragt, damit sicher nichts vergessen geht. Damit Freundschaften trotzdem funktionieren, werden die Freundinnen mit Geschenken überhäuft. Die Maske des funktionierenden, angepassten Mädchens, das zeigt was erwünscht wird, hält manchmal sehr lange an.
Das Problem ist – der Leidensdruck geht nicht weg. Anders als Jungen, die negative Emotionen schnell nach aussen zeigen (externalisieren), verstecken die Mädchen ihre negativen Emotionen. Daraus folgt, dass wir deutlich mehr Mädchen haben, die an einer Depression leiden, deutlich häufiger Angststörungen haben, früher beginnen zu rauchen, als ihre nicht-betroffenen Peers, häufiger als Teenies schwanger werden und als Erwachsene ein deutlich tieferes Selbstwertgefühl haben.
Denn, wenn alle rund um mich herum es schaffen, und ich nicht – dann muss es ja an mir liegen?!

Erwachsene mit ADHS
Viele Frauen mit ADHS merken erst im Erwachsenenalter, dass es einen Grund gibt, warum sie anders sind. Manchmal hilft da der Mommy-Factor. Die Frauen haben selbst Söhne, welche im Schulsystem auffallen und den Diagnoseprozess durchlaufen. Dabei bemerken sie bei den Fragen «Hey, das beschreibt ja mich!».
Andere Frauen erleben nach der ersten Geburt, wie ihr Kartenhaus zusammenbricht. Bei mir war das so. Mein Kartenhaus, gebaut aus viel Zeit alleine zur Erholung, wenig Anforderungen und wenig Reize zu Hause, gepaart mit viel Zeit zum Arbeiten, sodass ich dann, wenn ich gerade Energie hatte, viel erreichen konnte.
Plötzlich war da ein Kind, das rund um die Uhr schrie, meinen Reizfilter überlastete, ständig meine Aufmerksamkeit erforderte und mir die Möglichkeit nun ganz nahm, mich auf etwas zu konzentrieren. Mein Kartenhaus ging in die Brüche – und mit dem Schlafmangel, der nun schon viel zu lange anhielt, wurde mir eine Erschöpfungsdepression diagnostiziert. (Frauen mit ADHS haben deutlich häufiger eine Postpartale Depression als Frauen ohne ADHS).
Die Überlastung der Mütter, auch durch unsere gesellschaftlichen Strukturen, führen zu einem so hohen Leidensdruck, dass viele Erwachsene Frauen gezwungen sind, auf Spurensuche zu gehen. Warum klappt das bei allen, aber bei mir nicht?
ADHS als Trend
Dass Tiktok und Instagram, wie bei meinem Beispiel, Mitschuld haben am «Trend ADHS» stimmt natürlich. Aber entgegen der Meinung vieler, dass nun alle halt «einfach ADHS haben, weil es cool ist» liegt es vermutlich vielmehr daran, dass das Bild der Störung ADHS weggeht, vom klassisch männlich geprägten «Zappelphilipp» und es auch den Frauen erlaubt, ihre geschlechtstypischen Symptome der Störung zu erkennen. Mehr Störungswissen führt zu mehr Diagnosen. Mehr Akzeptanz führt ebenfalls zu mehr Diagnosen.
Denn wenn ich weiss, das ADHS bedeutet, und dass es voll okay ist, das zu haben, trau ich mich vielmehr auf den Weg der Diagnostik, als wenn ich Angst haben muss, was mit mir gesellschaftlich passiert, sollte jemand herausfinden, was ich habe.
Ist es also okay, erst als Erwachsene die Diagnose zu erhalten?
Nein. Natürlich nicht. Ich habe mir oft gewünscht, dass ich es als Kind bereits gewusst hätte. Dass ich als Kind bereits das Verständnis und die Nachsicht mit mir gehabt hätte, dass ich an meinen Schwächen gezielt hätte arbeiten können.
Dass dies nicht passiert ist, hat für ganz viele Frauen nachhaltige Folgen. Zum einen, weil unerkanntes ADHS diverse Folgestörungen hervorbringen kann. Häufig sind:
- Depressionen
- Angststörungen
- Drogenkonsum
- Burnout
- Chronischer Stress
- Deutlich höhere Sterberate als Kinder und Jugendliche, auf das ganze Leben bis zu 16 Jahre!
- Messbar tieferes Selbstwertgefühl, höhere Schwangerschaftsraten, mehr Essstörungen und häufigere missbräuchliche Beziehungen (inklusive sexuellem Missbrauch)
Eine Diagnose, zusammen mit einer angepassten Therapie hilft. Sie ist wichtig, weil sie den Brand ADHS in Schach hält, bevor andere Brände ausbrechen, die nicht so einfach zu löschen sind.

Aber wie schaffen wir es, Mädchen und Frauen mit ADHS zu erkennen?
Zum einen braucht es unbedingt mehr Forschung. Es ist noch nicht 10 Jahre her, als zum ersten Mal der weibliche Zyklus mit ADHS zusammen erforscht wurde (Spoilerwarnung – die beiden haben grosse Zusammenhänge!). Wir müssen wegkommen von der männlich geprägten Forschungsgeschichte und weibliches ADHS besser erforschen.
Zum anderen müssen wir Fachpersonen, Eltern, Ärzte und Lehrpersonen besser aufklären. Nicht nur über ADHS, sondern über die unterschiedlichen Aspekte von ADHS je nach Geschlecht.
Zuletzt müssen wir aufhören, das «Stören im System» als einzigen Grund zu nehmen, ein Kind abzuklären. Der Leidensdruck eines Kindes, auch wenn er beim Kind bleibt, sollte reichen, um genauer hinzuschauen. Also hören wir zu, wirklich zu, wenn uns jemand erzählt, wie es ihm geht. Und gehen zusammen auf den Weg, ihr zu helfen.
Ich bin Salome Merz, ADHS-Lerncoach. Als Primarlehrerin mit einem zusätzlichen Bachelor in Psychologie weiss ich, worauf wir beim Lernen aufpassen müssen. Durch mein eigenes ADHS weiss ich aber auch – Theorie ist nicht immer gleich Praxis. Ich habe gelernt, dass mit einigen Tipps und Tricks das Lernen mit ADHS einfacher gestaltet werden kann – und möchte dieses Wissen gerne teilen.